Sonntag, 18. November 2012 am Ehrenmal Friedhof Waldhusen
Begrüßung: Georg Sewe, 1.Vorsitzender des Gemeinnützigen Vereins
Kücknitz e. V.
Kranzniederlegung begleitet von den St. Johannes-Bläsern, Leitung:
Egbert Staabs
Worte des Gedenkens:
Altbischof Karl Ludwig Kohlwage
Meine Damen und Herren, lieber Herr Sewe!
Heute ist Volkstrauertag. Heute denken wir an die Opfer von Gewalt und
Krieg, Kinder, Frauen, Männer aller Völker. Wir gedenken der Opfer,
verstümmelt im Granatenhagel, ermordet in KZ-Lagern, erfroren und
verhungert auf der Flucht oder nach der Flucht. Auch hier auf diesem
Friedhof liegen sie. Wir gedenken derer, die verfolgt und getötet wurden,
weil sie einem anderen Volk oder einer anderen Rasse angehörten oder weil
ihr Leben durch Krankheit oder Behinderung "lebensunwert" war,
wie es im dunkelsten Abschnitt der deutschen Geschichte hieß. Wir
gedenken derer, die umgebracht wurden, weil sie Widerstand gegen
Gewaltherrschaft und Menschenverachtung leisteten. Und wir trauern um die
Opfer von Krieg, Bürgerkrieg und Terror an vielen Orten unserer Welt
heute, besonders im Nahen Osten, in Syrien, jetzt in Israel-Palästina. Es
erfüllt uns mit Trauer und Erschrecken, wie immer wieder und immer neu
Gewalt und Gegengewalt eskalieren und Menschen in den Tod reißen.
Heute denken wir an Menschen, für die nicht das tröstliche Wort des
Alten Testaments gilt: "Sie starben und lebenssatt." Nein, sie
starben vor der Zeit und durch Menschenhand. Es sind Menschen, die leben
wollten, die Pläne hatten, Hoffnungen, Erwartungen, aber ihr Leben wurde
zerstört.
Die Zahl der Opfer, denen das Gedenken dieses Tages gilt,
überschreitet das Maß des Vorstellbaren. Der fast 70-jährige Abstand
freilich von den grauenhaften Ereignissen des 2. Weltkrieges trägt zum
Verblassen bei. Anders aber ist es, wenn aus dieser unermesslichen Schar
ein Mensch, ein Schicksal, ein Name hervortritt. Noch leben Menschen, die
direkt von der Gewalt damals betroffen sind. Sie trauern um Angehörige,
Freunde, die Opfer geworden sind.
In Lübeck denken wir daran, dass der gewaltsame, der verbrecherische
Tod ein Gesicht bekommen hat in Gestalt der 4 Lübecker Märtyrer, derer
wir vor wenigen Tagen, am 10. November, gedacht haben. Am 10. November
1943 wurden sie als Opfer nationalsozialistischer Terrorjustiz
hingerichtet.
Volkstrauertag: Manchmal hört man die Frage, ob denn Trauer durch
einen staatlich festgelegten Feiertag verordnet werden kann, ob ein ganzes
Volk trauern kann. Nein, Trauer kann nicht angeordnet und nicht für alle
verbindlich gemacht werden. Aber es muss Erinnerung bleiben, und sie
braucht ihren Ort und sie braucht ihre Zeit und sie braucht Menschen, die
sich dem stellen, was war.
Es darf nicht sein, daß das maßlose Leid, die Absurdität dieses
Sterbens, die Ungeheuerlichkeiten, die Menschen Menschen angetan haben,
hinter einem vermeintlichen Schlussstrich, den man glaubt ziehen zu
können, in das Vergessen, in die Ahnungslosigkeit verschwinden.
Das kann ein teures Vergessen sein, eine teure Ahnungslosigkeit, weil
sie keinen Schutz bietet gegen neue Feindschaft, gegen neuen Hass, gegen
neue Überheblichkeit. Und nichts brauchen wir mehr als diesen Schutz.
Nichts brauchen wir mehr, als dass uns dieses eine große Vermächtnis der
schrecklichen Ereignisse des vergangenen Jahrhundert bestimmt: Alles kommt
darauf an, miteinander zu leben und nicht gegeneinander.
Wenn es eine Lektion gibt, die aus diesem Jahrhundert zu lernen ist,
dann ist es diese:
"Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass
gegen andere Menschen,
gegen Russen oder Amerikaner,
gegen Juden oder Türken,
gegen Alternative oder Konservative,
gegen Schwarz oder Weiß.
Lernen Sie miteinander zu leben, nicht gegeneinander.
Ehren wir die Freiheit. Arbeiten wir für den Frieden. Halten wir uns an
das Recht."
Damit schloss Bundespräsident Richard von Weizsäcker seine große
Rede zum 8. Mai 1985 zum 40. Jahrestag des Kriegsendes in Europa, sie
liegt Jahrzehnte zurück, aber sie ist gültig bis auf diesen Tag. Und mit
Recht und Notwendigkeit hat sie als ein ganz großer Text Eingang gefunden
in die Schulbücher.
Die Einsicht in diese Mahnung, die so aktuell ist, wie nur irgend etwas
in unserem Land, kann nur wachsen, wo nicht verdrängt und vergessen wird,
wo der Erinnerung Raum gegeben wird und der Trauer. Die Fähigkeit zur
Trauer und zur Einsicht ist die Kraft humaner Orientierung.
Ende März dieses Jahres haben wir der Zerstörung Lübecks durch
englische Bombengeschwader vor 70 Jahren, in der Nacht auf Palmarum 1942
gedacht. Ich habe diese Nacht als 9jähriger Junge miterlebt und erinnere
mich gut. Ein für mich unvergessliches Bild sah ich am Mittag des Sonntag
Palmarum. Wir wohnten nicht allzu fern vom Lübecker Dom und konnten den
Untergang der Kathedrale beobachten. Der Helm des einen Turms war schon
zusammengebrochen und hatte einen nackten, klotzigen Stumpf
zurückgelassen, der Helm des anderen Turm stand noch, die Kupferabdeckung
aber war aufgerissen, und Flammen schlugen aus der Balkenkonstruktion.
Einzelne Teile lösten sich, und dann brach vor unseren Augen der schlanke
Helm auseinander und stürzte wie eine gigantische Fackel nach unten.
Das sind Bilder, die man nie vergisst, und deren Ungeheuerlichkeit
einem erst später aufgeht. Sie haben sich fest in die Erinnerung, in das
Gedenken eingebrannt. Später haben wir erfahren, dass die Zerstörung
Lübecks Vergeltung für das von deutschen Bombern zerstörte Coventry
war. Für alles wird bezahlt, so heißt es doch.
Was ist daraus geworden? Der Dom ist herrlich wiederauferstanden und
ist jetzt in sich ein Zeugnis der Auferstehung, die in ihm verkündet
wird. Die Zerstörungsgeschichte hat einer ganz anderen Geschichte Raum
gemacht. Das zu erleben, ist das Privileg meiner Generation, ist unser
aller Privileg.
Palmarum 1992 – 50 Jahre danach – haben wir einen Gottesdienst
gefeiert, von dem ich schon oft erzählt habe. Am Altar der Engländer
Stephen Sykes, Bischof von Ely, der Partnerdiözese der Nordelbischen
Kirche, der Rabbiner Carlebach aus Manchester, Neffe des letzten Lübecker
Rabbiners, der 1941 mit seiner Gemeinde in die Todeslager des Baltikums
deportiert wurde, und der deutsche Bischof. Wir Drei vereint in dem Kyrie
eleison – Herr, erbarme dich.
Was für ein Bild! Was für ein Schritt heraus aus der Geschichte von
Tod, Verwüstung, Menschenverachtung. Gott nagelt uns nicht fest auf die
Schrecken der Vergangenheit, sondern öffnet neue Wege der Verständigung
und Versöhnung. Und es hat früh Menschen gegeben, die entschlossen
waren, diese Wege zu gehen.
Das Staunen bleibt, der Dank bleibt: auf einem von Gewalt, Hochmut und
ideologischer Verblendung verseuchten Boden ist etwas Neues gewachsen,
eine neue Ordnung unseres gemeinsamen Lebens, die jedem Menschen
unantastbare Würde und unveräußerliche Rechte zuspricht.
Das Projekt Europa ist auf diesem Boden gewachsen. Ein Kontinent,
dessen Geschichte 1000 Jahre mit Blut geschrieben wurde, ist aufgebrochen
zu einem neuen Miteinander. Und wir, Alte wie Junge, sind dafür
verantwortlich, dass dieses Neue nicht zerrieben wird durch Finanz- und
Wirtschaftsprobleme, dass es nicht der Gleichgültigkeit und
Erwartungslosigkeit oder gar Verachtung anheim fällt. Nur so kann das,
was in Europa geschehen ist und geschieht, ausstrahlen auf die Regionen
der Erde, in denen immer noch Gewalt und Krieg herrschen.
Vergesst es nicht! Gedenkt dessen! Und tretet ein für das Neue, wenn
sich die Kräfte des Bösen und Ewiggestrigen wieder melden! Diese Kräfte
der Unversöhnlichkeit und des Hasses sind nach wie vor aktiv, sie melden
sich, auch in Lübeck. Sie brauchen die klare und eindeutige Absage, eine
Absage, deren Klarheit und Eindeutigkeit sich nährt aus der Erinnerung,
aus der Einsicht in das, was war und was nie wieder sein darf .
Wir sind hier zusammen unter einem großen Kreuz. Am Kreuz hat einer
gehangen, der alle Gewalt, Niedertracht und Vernichtungswut auf sich
genommen hat. Er sollte verschwinden. "Der muss weg!" war
Mehrheitsmeinung. Aber er ist nicht weg. Er ist mit neuem Leben aus Tod
und Verderben hervorgegangen. Sein Kreuz ist ein Zeichen des Lebens
geworden. Sein Geist ist unter uns lebendig. Er hält Ausschau nach denen,
die ihn bitten: Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens! Und die
tun, worum sie bitten.
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